Wie unser Team durch die Retrospektive effizienter wurde
Ich schrieb schon, dass unser HR-Team 2015/16 durch eine Restrukturierung aufgrund eines Eigentümerwechsels und dem angeschlossenen Börsengang einige Findungsschwierigkeiten hatte. Vor der Reorganisation waren wir eine siebenköpfige Abteilung, eingespielt, fachlich und inhaltlich gut aufgestellt, es gab etablierte Prozesse und klare Zuständigkeiten. Die Personalabteilung war in der klassischen Dienstleisterrolle.
Dann gingen fünf Kollegen innerhalb weniger Monate und mit ihnen eine Menge Erfahrung und Know How. Mit der Abteilungsleitung wechselte auch die inhaltliche Ausrichtung: Die Vision der neuen Geschäftsführung war es, die Personalarbeit auf den neusten Stand zu bringen und neben dem operativen Tagesgeschäft vor allem eine im Unternehmen präsente strategische und treibende Position einzunehmen. Dazu wurden neue Stellen geschaffen, denn uns wurden nun auch die Themen Kommunikation und Unternehmensentwicklung zugeordnet. Wir wuchsen enger mit der Personalabteilung von Autoscout in München zusammen, was ich als große Bereicherung empfunden habe. Aber dabei mussten wir Prozesse und Vorgehensweisen angleichen, und 600 Kilometer Distanz erschwerten den Austausch.
Wir waren also nun ein Team von 15 Kollegen, fast alle neu. Dazu hatten wir eine Menge Zusatzaufgaben, und für viele der alten Jobs gab es keine verantwortlichen Ansprechpartner mehr. Da wir alle mit großem Workload zu kämpfen hatten, hielt sich die Begeisterung, eines der verwaisten Themen zu adoptieren, etwas in Grenzen. Dazu war die Reorganisation der Firma in vollem Gange, Abteilungen wurden umstrukturiert, Kollegen kamen und gingen. Man denkt als Außenstehender immer, dass Personaler im Zentrum der Macht sitzen, den totalen Informationsvorsprung haben und mindestens mal alles wissen, was an personellen Veränderungen in den nächsten sechs Monaten so ansteht. Schön wär’s. Die Reorga löste bei uns genauso viel Unsicherheit wie im restlichen Unternehmen aus. Kurzum, der Stresspegel war hoch, die Stimmung war unten.
Zum Glück hatten wir zu dieser Zeit eine offene Position für das Thema Organisationsentwicklung. In der IT war grade die Scrum-Abteilung aufgelöst worden und unsere neue Vorgesetzte hatte clever dafür gesorgt, dass eine der obdachlos gewordenen Agile Coaches zu uns kam, Kristina Müller. Fand ich gut: Kristina hatte neben ihren Scrum-Erfahrungen auch Ahnung von Personal, war eine gute Projektmanagerin und weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen, also genau das, was wir zu diesem Zeitpunkt nötig hatten. Sie sah sich das Hin- und Hergeschubse der Verantwortlichkeiten und das Gegrummel im Team nicht lange an. Kristina lebt die agilen Werte wie kein zweiter, allen voran wertschätzenden Umgang miteinander, und ich glaube, sie hat ihre ersten Tage bei uns vor allem mit innerlichem Kopfschütteln verbracht. Im zweiten oder dritten Teammeeting reichte es ihr: Die Hälfte der Kollegen war (wie üblich) völlig abgehetzt und (wie üblich) viel zu spät gekommen, wir hatten uns (wie üblich) in unnötigen Detaildiskussionen verzettelt und die wirklich wichtigen Agendapunkte waren (wie üblich) zu kurz gekommen. Kristina warf also die ohnehin schon stark vernachlässigte Agenda über Bord, ergriff das Wort und fragte in die Runde, wer aus unseren Meetings eigentlich einen wirklichen Mehrwert für seine tägliche Arbeit zieht – und da war es auch einmal sehr still im Raum. Das wäre der richtige Moment für eine Motivationsrede oder so gewesen, aber die blieb uns erspart. Kristina spiegelte uns einfach kurz und sachlich ihre Wahrnehmung der Situation wieder, nämlich unstrukturiertes wuseliges Durcheinander und dadurch ineffizientes Arbeiten mit der Folge, dass der eh schon hohe individuelle Stresslevel noch mehr zunimmt. Dann erzählte sie uns von einem Scrum-Meeting, welches sie gerne mit uns ausprobieren wollte, um uns zu helfen: Die Retrospektive.
Die Retrospektive ist ein regelmäßiges moderiertes Meeting mit vorher festgelegtem zeitlichem und inhaltlichem Ablauf, welches dem Team die Möglichkeit geben soll, sich selber kritisch zu reflektieren und daraus Verbesserungs- oder auch Teamentwicklungsmaßnahmen abzuleiten (genauer nachzulesen auch im Scrum-Guide). Im Tech-Umfeld geht es dabei konkret um Effizienzsteigerungen durch z.B. Verbesserungen in den Entwicklungsprozessen oder eine Steigerung der Produktqualität. Wir haben die Tür etwas weiter geöffnet und die Retro dazu genutzt, uns zu strukturieren, mit Befindlichkeiten aufzuräumen und Themen anzusprechen, für die wir im Tagesgeschäft keinen Raum hatten. Die Ergebnisse, die wir in den Retros erarbeitet haben, trugen dann aber auch tatsächlich dazu bei, dass wir als Team enger, vertrauensvoller und effizienter zusammengearbeitet haben.
Wie läuft nun eine Retro ab? Ich stelle euch hier mal einen beispielhaften Ablaufplan vor:
Set the Stage (5 Minuten)
Der Moderator klärt die Rahmenbedingungen (verfügbare Zeit, Diskretion des Besprochenen, Gleichberechtigung aller Teilnehmer – jeder wird gehört), stellt die Agenda vor. Jeder Teilnehmer kommt an und berichtet kurz, in welcher Stimmung er ist.
(Praxistipp: je nach Situation kann es sinnvoll sein, auf die Anwesenheit von Führungskräften in der Retro zu verzichten, um jedem die Möglichkeit zu geben, frei und offen zu sprechen.)
Gather Data (20 Minuten)
Die Teilnehmer beantworten für sich die Fragen „was lief in der letzten Zeit gut?“ und „was lief in der letzten Zeit nicht gut?“. Dann werden die Ergebnisse gesammelt, sortiert und geclustert. Alle stimmen über die drei wichtigsten zu klärenden Probleme ab.
(Praxistipp: Da man Retros in regelmäßigen Abständen wiederholt, wird die Standardagenda wahrscheinlich schnell langweilig. Wenn ihr eure Datenerhebung etwas auflockern möchtet, empfehle ich euch einen Blick auf den Retromat. Der bietet verschiedene unterhaltsame Möglichkeiten, das Feedback der Teilnehmer einzusammeln.)
Generate Insights (45 Minuten)
Jedes der drei Prio-Themen wird tiefer analysiert. Ziel ist es, zu verstehen, wieso jedes Problem vorhanden ist, um danach dessen Ursache beseitigen zu können. Der Moderator protokolliert die Diskussion.
(Praxistipp: Es müssen nicht zwingend drei Prio-Themen sein, es kann auch sinnvoll sein, weniger Themen tiefer zu besprechen. Mehr als drei Themen sollten es aber nicht werden.)
Decide what to do (10 Minuten)
Die Lösungsvorschläge werden als Action Items festgehalten und den Teilnehmern als Hausaufgabe bis zur nächsten Retro mitgegeben.
(Praxistipp: Je weniger Action-Items, desto besser – lieber eines umgesetzt als zehn vereinbart und nichts verändert.)
Abschluss (5 Minuten)
Der Moderator sammelt das Feedback aller Teilnehmer ein und beendet die Retrospektive.
Auf das Thema “Gleichberechtigung aller Teilnehmer” möchte ich zum Schluss nochmal kurz eingehen. Es ist unglaublich wichtig, dass grade in der Retro jede Meinung gehört und respektiert wird: Unser Team war insgesamt recht extrovertiert und lautstark. Zwei introvertierte Kollegen waren bis dahin häufig untergegangen, obwohl sie wohlüberlegte und wertvolle Beiträge beisteuern wollten. Bis zu unserer ersten Retro hatten sie zudem monatelang unter dem hohen Lärmpegel in unserem Großraumbüro gelitten, und den restlichen Teammitgliedern war bis dahin nicht mal bewusst gewesen, dass nicht jeder in einer turbulenten Arbeitsatmosphäre zu Höchstformen aufläuft. Die Retrospektive gab beiden endlich den geeigneten Rahmen, diese für sie sehr belastende Situation offen anzusprechen und mit uns zusammen nach einer Lösung zu suchen. Offene Kommunikation und Transparenz schaffen neben einer effizienteren Zusammenarbeit mehr Verständnis füreinander und steigern so das gegenseitige Vertrauen.
(Wir einigten uns in der Lärmfrage übrigens auf eine simple, aber wirksame Lösung: Den mittlerweile legendären Schweigefisch, ein Stofftier, das man einfach kommentarlos den Kollegen auf den Schreibtisch setzen konnte, wenn mal wieder zu begeistert diskutiert wurde. Albern? Vielleicht schon. Aber doch auch viel netter als ein genervtes “Ey könnt ihr mal ruhig sein da hinten?”. Und die Gewinner der zweifelhaften Trophäe wurden sofort still.)
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